27.7.2024

Digital Detox und Langeweile

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Sicher kennst Du die iPhone Funktion „Bildschirmzeit“? Seit iOS 12 kannst Du Dir jeder Zeit eine genaue Statistik darüber aufrufen, was Du mit Deinem Smartphone gemacht hast. Bis dahin kannte ich den Begriff „Medienzeit“ nur aus der Kindererziehung. Nun können wir Erwachsene uns unsere genutzte Medienzeit detailliert ausgewertet anzeigen lassen.

Zwei Fragen gehen mir dazu durch den Kopf:

1.   Wie schlimm muss es um uns stehen mit unserer Abhängigkeit von den digitalen Medien, wenn jetzt sogar die großen Tech-Unternehmen anfangen, das Thema mit einem deutlich regulativen Anstrich aufzugreifen?

2.   Nun können wir schauen, wie viel Zeit wir wieder mit WhatsApp, YouTube, und Google verbracht haben.

Ok, und jetzt?

Ich möchte heute etwas über die Herausforderungen schreiben, vor die die Digitalisierung jeden Einzelnen von uns stellt. Und ich möchte Euch von einem kleinen Selbstversuch berichten, den ich seit kurzem mit großer Zufriedenheit durchführe: Dem Digital Detox Day.

Zunächst zur ersten Frage: Was ist so schlimm an der Digitalisierung? Dazu glaube ich ganz persönlich, dass die digitale Entwicklung zunächst einmal super ist und uns Menschen weiterentwickelt und zu Neuem beflügelt. Ich möchte daher hier nicht missverstanden werden als „früher war alles besser“. Ganz individuell für jeden von uns, macht Digitalisierung Informationen und Wissen zugänglich, ermöglicht Vernetzung und erleichtert den Alltag. Dank Digitalisierung spare ich viel Zeit, wenn ich kurz etwas googeln kann und nicht umständlich per Telefon oder physisch in der Bibliothek recherchieren muss. Ich bin mit einer kurz an Siri diktierten Nachricht mit drei anderen Müttern im Austausch zum heutigen Schulweg meiner Tochter und kann Nachrichten mit Freunden in den USA genauso austauschen, wie meinem Mann meinen Standort zu senden, wenn ich auf dem Weg nach Hause im Stau stehe. Und das sind nur die Digital Basics, die ich privat im Alltag nutze – ich bin ja auch nur „Digital Immigrant“ und lerne von Menschen, die wesentlich jünger sind als ich. Auf viele weitere Vorteile will ich hier nicht näher eingehen.

Die Digitalisierung stellt aber eben auch einen Umbruch und Sprung in unserer gesellschaftlichen Entwicklung dar, der bestimmt zu Recht mit den Veränderungen z. B. durch die Industrialisierung verglichen wird. Wir als Gesellschaft und wir als Individuum müssen lernen, mit dieser Veränderung umzugehen.

Problematisch wird die Digitalisierung und ganz konkret unser Handy-Gebrauch m. E. durch die Aufmerksamkeit, die es uns immer wieder versucht abzuringen. Besonders die sozialen Medien sind mit ihrem Geschäftsmodell darauf ausgelegt, uns möglichst oft auf den Bildschirm schauen zu lassen (was ist bei Twitter los, wer hat was bei facebook gepostet, habe ich eine Whatsapp Nachricht?). Dass besonders die digitalen sozialen Netzwerke dabei im Kern darauf ausgelegt sind, uns in unserem Verhalten zu manipulieren, um den Marketing-Zwecken ihrer zahlenden Kunden gerecht zu werden, ist noch einmal ein ganz anderes Thema. Ich konzentriere mich heute nur auf die Frage der Aufmerksamkeit. Jeder kennt das: Man ist gerade mitten in einem Gespräch als ein Smart Phone eine Mitteilung verkündet. Selbst wenn alle Gesprächspartner widerstehen (was selten genug vorkommt), auf ihr Handy zu schauen, so lenkt uns der Mitteilungston doch ab. Die Unterhaltung stockt kurz – wenn auch nur in der Intensität der Aufmerksamkeit. Und da passieren ja mindestens zwei Dinge: Es ändert sich dadurch etwas an der Tiefe unseres Austausches untereinander. Und es fordert jeden Einzelnen zum Multi-Tasking. Und dass Multitasking ein Mythos ist, wissen wir. Was tatsächlich passiert ist der sogenannte Sägeblatt-Effekt – die Aufmerksamkeit bricht weg und nach der Unterbrechung dauert es einen Moment, bis sie wieder aufgebaut ist. Mit der nächsten Unterbrechung bricht sie wieder rapide weg und es braucht wieder etwas Zeit, bis man wieder voll bei der Sache, also im Gespräch ist.

Als wir noch keine Kinder hatten, haben mein Mann und ich mal eine lässig hingeworfene Erziehungsbotschaft einer Mutter an ihre ca. 4-jährige Tochter mitgehört, die uns spontan so gut gefallen hat, dass wir uns schon darauf gefreut hatten, diese Weisheit später einmal an unsere eigenen Kinder weitergeben zu können. Diese Mutter sagte als Reaktion auf die Quengelei ihrer Tochter: „Emma, manchmal ist das Leben eben langweilig!“ Ich bin fest von der Bedeutung dieser Botschaft überzeugt. Das Leben hat so viele Facetten und das Abenteuer und die Erlebnisse werden nur im Kontrast zum dem – ja, manchmal langweiligen – Alltag erst so richtig bunt. Leben bedeutet Freude genau wie Traurigkeit, Entspannung und Erholung genau wie Anstrengung und Arbeit, Aufregung genau wie Langeweile. Nichtstun und Langeweile beflügelt zum Beispiel die Kreativität wie kaum etwas Anderes. Jetzt frage ich mich allerdings, wie viel Langeweile unser aller Leben denn noch beinhaltet? Tristan Harris, ehemals Google und dann Begründer der Initiative „Time Well Spent“ bringt meine Sorge dazu auf den Punkt: Unsere Smart Phones bieten uns die Möglichkeit, unsere Zeit produktiver, unterhaltsamer oder stimulierender zu verbringen, als das Leben in der Realität ist.

Mein iPhone sagt, dass ich in der letzten Woche durchschnittlich 1h 47 min pro Tag auf mein Handy geschaut habe. Ich habe durchschnittlich 25 Mitteilungen pro Tag erhalten und mein Gerät 34 Mal pro Tag aktiviert. Ich habe den Eindruck, dass ich nicht unbedingt zu den aktivsten Handy-Nutzern gehöre (wobei ich auch sicher bin, dass man sich mit dieser Selbsteinschätzung ziemlich vertun kann), aber trotzdem habe ich in der Woche 12,5 Stunden auf mein Handy geschaut. Das ist ein ganzer Tag! Ich weiß nicht, wie es Dir geht, aber mich schockiert und beunruhigt das: Ein – ganzer – Tag!

Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, mich nicht einfach mit dem digitalen Strom treiben zu lassen, sondern mir sonntags eine Insel zu suchen und mich ohne Handy und Internet auszuprobieren. Ich habe für mich den Digital Detox sunDay eingeführt. Am Sonntag bleibt das Handy in der Ecke und ich tue so, als gäbe es das Internet nicht. Ich hole mir meinen Tag, den ich mit Bildschirmzeit unter der Woche verbracht habe, wieder zurück. Und weißt Du was? Es ist so wohltuend! In unserem Alltag, in dem ständig viele Anforderungen an uns gestellt werden, der viele Reize für uns bereithält, fühle ich mich deutlich erleichtert. Auch fühle ich mich fast ein bisschen rebellisch, so als ob der Rattenfänger von Hameln wieder alle Ratten hinter sich versammelt und ich aber einfach mal nicht hinterher laufe. Ich habe das Gefühl, an diesen Tagen viel mehr Zeit zur Verfügung zu haben. Der Statistik nach müssten es 1h 47min sein – es fühlt sich aber viel mehr an. Ich fühle mich viel achtsamer in dem Moment, der gerade ist.

Ich habe in mich hineingehört und mich gefragt, woher diese Gefühle von Freiheit, Achtsamkeit, Erleichterung und Rebellion kommen wenn ich eine tolle Errungenschaft unserer Zeit ignoriere. Was beobachte ich an mir und meinem Verhalten?

Erst einmal ist es erschreckend, wie oft meine Gedanken zu meinem Handy wandern. Es erscheint mir fast wie ein Reflex, den ich unterdrücken muss, das Handy in bestimmten Momenten oder auch als Lückenfüller zu checken. Das geht ja schon beim Aufstehen los, dass ich auf dem Weg ins Bad nicht als erstes den Flugmodus deaktiviere. Und auch später ertappe ich mich oft bei der gedanklichen Frage, ob ich wohl eine Nachricht erhalten habe. Sehr selbstbestimmt und rebellisch fühle ich mich dadurch, dass ich mich nicht durch meine Impulse/ Reflexe oder auch die Manipulation der Tech-Konzerne steuern lasse, sondern mache, was ich will!

Dann stelle ich fest, dass ich mich viel besser auf die Situation einlassen kann, in der ich tatsächlich gerade bin. Der Sog zum Handy bindet keine gedankliche Kapazität und ich kann ganz im Augenblick mit meinem Sohn das Weihnachtsgeschenk von Playmo zusammenbauen. Eine ganz wunderbar achtsame Erfahrung, die uns allen sicher so gut tut.

Wenn Du es noch nicht gemacht hast, schaue Dir mal Deine Statistik zur Bildschirmzeit an. Wie viel Zeit verbringst Du an Deinem Handy und vor allem für was? Womit geht es Dir wirklich gut und was nutzt Du bewusst? Wenn Du Lust hast, Dich selbst etwas in Deinem eigenen Nutzungsverhalten zu steuern, findest Du z. B. hier tolle Tipps für einen bewussteren Umgang mit Deinem Handy: http://humanetech.com/take-control/

Und vielleicht hast Du ja Lust bekommen auf etwas Digital Detox?

Probiere es einfach mal aus und gönne Dir selbst die Gelegenheit, den Unterschied zu spüren. Fange so klein oder so groß an, wie es Dir passend erscheint. Für mich ist ein Tag in der Woche toll. Vielleicht ist es für Dich eine Stunde nach Feierabend? Oder vielleicht nur der Verzicht auf eine bestimmte App? Probiere, was Dir machbar aber gleichzeitig ein kleines bisschen herausfordernd erscheint. Und dann beobachte Dich genau – was sind Deine Impulse, wie fühlst Du Dich? Und warum? Was denkst Du?

Vielleicht ergibt sich die Antwort auf die Frage, was denn nun mit der Statistik über die eigene Bildschirmzeit zu tun ist auf diesem Weg.

Ich wünsche Dir einen guten Weg.

Wer Lust bekommen hat, sich mit dem Thema intensiver auseinanderzusetzen, dem empfehle ich folgende Seiten: 

·       www.humanetech.com  

·       https://www.pbs.org/newshour/show/phone-trying-control-life 

·       http://www.maz-online.de/Nachrichten/Medien/Netzwelt/Abgelenkt-vom-Handy-Warum-Funktionen-wie-Apples-Bildschirmzeit-bei-iOS-12-nicht-reichen 

·       https://ioswelt.de/2018/10/01/apples-greg-joswiak-spricht-ueber-die-bildschirmzeit-in-neuem-podcast/

 

Photo by Christian Wiediger on Unsplash


Tags

Bildschirmzeit, Digital Detox, Digital Detox Day, Digitalisierung, Selbstversuch, Stress, Stressmanagement


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