27.7.2024

Die Stimme

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Du leistest mehr als die meisten Menschen um Dich herum? Du hast viele Projekte gleichzeitig im Griff und erhältst immer wieder Anerkennung für Deine Belastbarkeit? Du bist stolz auf das, was Du erreicht hast? Das kannst Du auch sein! Heute will ich Dich fragen, ob Du diese leise Stimme im Hinterkopf kennst, die immer häufiger und immer lauter flüstert: „Ich kann nicht mehr!“ oder „Was tue ich hier eigentlich?“. Hörst Du diese Stimme manchmal? 

Wenn ja, bist Du damit in guter Gesellschaft. Fast sechzig Prozent der Deutschen wünschen sich, Stress abzubauen. Vierzig Prozent fühlen sich oft „abgearbeitet und verbraucht“ (Studie der Techniker Krankenkasse von 2013). Unabhängig davon, welche Studie man anschaut, variieren diese Prozentzahlen. Sehr hoch sind sie immer. Und die Frage ist: Was tust Du mit dieser Stimme? 

Als Erstes könntest Du ihre Existenz einfach leugnen. Du bist ja schließlich nicht verrückt und hörst Stimmen. Also ganz fest die Ohren zuhalten, damit sie nicht durchdringt durch Deinen Schutzwall. Am besten diesen Wall auch noch gut verstärken mit etwas Handfestem. Zum Beispiel mit einer schicken neuen Tasche. Oder zwei, wenn eine nicht reicht. Oder drei… 

Eine andere Möglichkeit ist, die Stimme zu ignorieren. Was heißt denn da „Ich kann nicht mehr“?! Man muss auch mal kämpfen können und die Zähne zusammenbeißen. Das Leben ist schließlich kein Ponyhof. Am besten noch mehr Gas geben, dann lässt sich die Stimme vor lauter Projektplänen, Meetings und To-Do-Listen überhören. 

Eine weitere Möglichkeit wäre, der Stimme den Mund zu stopfen. Einfach ein hochpreisiges Luxus-Wellness-Wochenende buchen. Selbstverständlich erst nach Abschluss des laufenden Prio-A-Projektes. Und bis dahin einfach jeden Abend so viel Rotwein trinken, dass die Stimme anfängt zu nuscheln und Du nicht mehr ganz sicher sagen kannst, ob sie sagt: „Ich kann nicht mehr!“ oder: „Ich kann noch mehr!“. Prost! 

Außerdem könntest Du ihr natürlich auch zuhören. Erstmal nur zuhören und verstehen, was sie eigentlich genau meint und will. Aber dafür hast Du ja keine Zeit. Und ja, Du hast Recht: Um das wirklich zu verstehen und sich mit dieser Stimme ausführlicher auseinanderzusetzen, braucht es wirklich etwas Zeit und Ruhe zur Reflexion. Aber Du bist es gewohnt, informierte Entscheidungen zu treffen. Also informiere Dich. Mache einen Termin mit dieser Stimme und gib ihr die Chance, Dir eine Management Summary ihres Anliegens durchzugeben. Danach hast Du eine Entscheidungsgrundlage für den weiteren Umgang mit ihr. 

Genug des Sarkasmus und der Ironie. Ich wünsche jedem, der diese Stimme kennt, die Chance ihr zuzuhören. Und ich weiß, dass es wirklich sehr schwer ist, sich etwas Freiraum zu schaffen. Verdammt schwer! Deshalb habe ich heute hier eine schrittweise Anleitung, wie Du im Kalender einen regelmäßigen Termin freimachst für Dich und die Stimme. 

Schritt 1: Wie kannst Du gut denken? Welches Setting brauchst Du? Bist Du Deinen eigenen Gedanken (nichts Anderes ist die Stimme) am nächsten während Du an Deinem Lieblingsplatz sitzt? Oder unter der Dusche oder in der Badewanne? Vielleicht hast Du auch direkt morgens, wenn Du aufwachst und noch im Bett liegst, den besten Zugang zu Deinen Gedanken? Oder während Du Auto fährst? Kannst Du besser denken wenn Du drinnen oder wenn Du draußen bist? Zu Hause oder musst Du „mal raus“? Wenn Du merkst, dass Dein Gehirn Dich austricksen will und Dir als Antwort auf diese Überlegungen zum Setting die Malediven liefert, falle nicht darauf herein und antworte nicht: „Tja, dann geht das frühestens nächstes Jahr.“. Vielmehr nimm die Anregung auf und denke sie weiter – ganz im Sinne eines meiner Lieblings-Mottos: „So viel wie nötig, nicht so viel wie möglich“. Damit lassen sich Wünsche und Bedürfnisse wunderbar in die alltägliche Realität übertragen. Was haben die Malediven, das Dir beim Denken hilft? Abgeschiedenheit? Ausblick? Einen Platz an der Sonne? Nimm das Kernelement und suche es in Deinem Alltag. Der Blick in den Sonnenuntergang im Malediven-Urlaub vor zwei Jahren hatte den Blick nach Innen für Dich erleichtert? Die Sonne geht auch bei Dir zu Hause unter – Du brauchst nur hinzugucken. 

Schritt 2: Wie lange willst Du denken? Hier passieren oft die größten Fehleinschätzungen. Es braucht keine stundenlange Ruhe und perfekte Bedingungen, die erst mühsam erarbeitet werden müssen. Regelmäßigkeit macht den Unterschied. Schon fünf Minuten pro Tag oder fünfzehn samstags und fünfzehn sonntags sind mehr als Du der Stimme jetzt zugestehst, richtig? Also was ist die kleinste zeitliche Einheit, die Du für richtig hältst? Du hast richtig gelesen: Die KLEINSTE zeitliche Einheit. Die planst Du ein und versprichst Dir selbst, sie einzuhalten. Du darfst es Dir dabei ruhig leicht machen. Vielleicht denkst Du: „Drei Minuten beim Aufwachen, was soll das schon bringen?“ Du wirst sehen: Erstens können drei Minuten mit den eigenen Gedanken schon sehr viel sein in unseren prall gefüllten Tagen. Und zweitens machen diese drei Minuten schon nach kurzer Zeit einen deutlichen Unterschied. Du wirst verstehen, was die Stimme eigentlich genau sagen will. 

Schritt 3: Räume diesem Termin für Dich oberste Priorität ein. Du hast Dir ein Versprechen gegeben und erfüllst es. Es ist egal, was dabei herauskommen wird. Du wirst Deiner Verantwortung Dir selbst gegenüber gerecht und hörst Dir an, was die Stimme zu sagen hat. Mache Dir Notizen. So wie Du in den Meetings kurz die Kernpunkte notierst. Du musst keine Handlungen ableiten, erstmal nur die Punkte sammeln, die aufkommen. Brainstorming. 

Schritt 4: Wenn Du denkst zu verstehen, was die Stimme Dir sagen will, kannst Du Dich gerne bei ihr für ihren Beitrag bedanken und ihr versichern, dass Du ihre Meinung in die zukünftige Planung einfließen lassen wirst. 

Wenn Dir das zu psycho erscheint, dann nimm die Stimme einfach als das, was sie am Ende auch ist: Ein Teil von Dir, der dafür zuständig ist, auf Dich zu achten und Deine Bedürfnisse wahrzunehmen. Dieser Teil ist vielleicht nicht so laut und stark wie der, der Dich zu beruflichen Höchstleistungen anspornt oder Dich daran erinnert, keine Schwäche zu zeigen. Aber sie ist ein Teil von Dir – vielleicht ein richtungsweisender. 


Photo by Jesse Gardner on Unsplash


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authentisch leben, Innehalten, Reflektieren, Resilienz, Stimme im Hinterkopf, Stress, Stressmanagement


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